Pierrot. Eine französische Weiterentwicklung der Commedia dell’ arte.

Geschrieben am 24. November 2011

Pierrot ist wohl eine der bekanntesten Figuren der italienischen Theatergattung Commedia dell’ arte (commedia, ital.: Lustspiel; arte, ital.: Kunst oder Gewerbe). Tatsächlich geht die Figur, wie sie heute dargestellt wird, aber auf die französische Konzeption zurück.

Die Anfänge der italienischen Commedia dell’ arte lassen sich bis ins Jahr 1526 zurückverfolgen als Francesco Nobili die erste komödiantische Wandertruppe in Italien gründete und mit dieser ganz Europa bereiste.

Charakteristisch für Szenenbeschreibungen (Szenari) der klassischen Form der Commedia dell’ arte sind zum einen ihre auf Improvisation beruhenden Aufführungen und zum anderen die Verwendung von Halbmasken, die zwar Stirn, Augen und Nase verdecken, jedoch Mund und Kinn zum Sprechen freilassen. Das Maskenspektrum war festgelegt, weshalb die einzelnen Figuren anläßlich ihrer standardisierten Kostümierung einen hohen Wiedererkennungswert hatten. Zumeist bestehen die Szenari dieses Maskenspiels aus vier Grundmasken: zwei Alte (Vecchi), die zumeist durch die Figuren des phlegmatischen venezianischen Kaufmannes Pantalone oder des Gelehrten Dottore dargestellt werden. Zudem sind zwei Diener für jedes Stück unerläßlich. Bekannteste Figuren sind hier die narrenhaften und clownesken Arlecchino und Perrucchi. Die Themenwahl der Handlungsplots beschränkt sich häufig auf Szenen aus dem Alltag, die mit Wort-und Sachwitz das Publikum unterhalten sollen. Das Arsenal der Schauspieler reichte von langen Monologen (Tirate) bis hin zu akrobatischen Einlagen (lazzi).

Nach dem Niedergang und der Verbannung der italienischen Commedia dell’ arte gab es im Frankreich des 18. Jahrhunderts erste Bemühungen, deren Tradition neu aufleben zu lassen. Resultat war der Triumphzug des Open-Air-Theaters in Form von pantomimischen Vorstellungen. Bekannteste und beliebteste Figur war hier Pierrot, der zwar letztlich auch eine italienische Erfindung ist, seitens französischer Theaterschreiber aber grundlegende äußerliche und charakterliche Veränderungen erfuhr. Statt einer kurzen wollenen Tunika, trat Pierrot nun mit einer weitgeschnittenen Bluse auf, deren Ärmel über die Hände reichten. Komplettiert wurde das Kostüm durch eine zumeist schwarze Samtkappe und einer angedeuteten Träne im weißgeschminkten Gesicht auf. Charakterlich gibt es kein einheitliches Bild von Pierrot. So wird er oftmals als fauler, melancholischer, mal großzügig mal verschlagener, aber stets bettelarmer Harlekin skizziert.

Die französische Version des Pierrot unterscheidet sich gewaltig von den traditionellen Figuren des italienischen Maskentheaters. Häufig wird sogar behauptet, Pierrot ginge auf den ebenfalls aus der Commedia dell’ arte bekannten Charakter Pulcinella zurück. Nicht nur, dass Pierrot und Pulcinella gemeinsam in Szenari auftraten, sie unterscheiden sich auch äußerlich gewaltig. Zwar gehören Pulcinella als auch Pierrot zu den Dienern (Zanni), aber Pulcinella trägt einen weißen Fuhrmannskittel, der im Gegensatz zu Pierrots Kleidung an der Taille mit einem Gürtel zusammengeschnürt ist. Statt einer dunklen Kappe, trägt Pulcinella einen langezogenen Hut mit hochgebogenen Rändern. Zudem trägt Pierrot nie eine Maske, ganz im Gegensatz zu Pulcinella und den anderen Commedia-Charakteren.

Heutige Darstellungen von Pierrot stehen in der Tradition der französischen Konzeption. Hinsichtlich der charakterlichen Eigenschaften  ist das Bild jedoch verkürzt, denn die Figur wird ausschließlich als melancholisch gestimmte und traurig dreinblickende Gestalt gezeigt. Das Spektrum der Pierrotfigur wird hier nicht ausgeschöpft. Pierrot ist zum Prototyp eines  Clownbildes geworden, das durch seine reduktionistische Ambivalenz besticht.

Empfehlenswerte Literatur zur Commedia dell’ arte:

Carlo Goldoni: Mein Theater – Mein Leben. Berlin 1949 [1787]. (Autobiographie des wahrscheinlichen Namensgebers dieser Theatergattung)
Flaminio Scala: Il Teatro Delle Favole Rappresentative (1611) (engl. Scenarios of the Commedia dell’Arte.) (Sammlung von 50 Szenari der Commedia dell’arte)
Henning Mehnert: Commedia dell’arte. Stuttgart 2003. (Bietet einen guten, wenn auch manchmal übertrieben faktenreichen, Überblick)