Wunderbar verschwenderisch! – Elger Esser: Cap d‘ Antifer – Èntretat

Geschrieben am 14. November 2012

Ich brauche eine Steilküste, die meinen beiden Biedermännern Angst macht … ich habe sie gesucht … einen ganzen Nachmittag lang in der Umgebung von Le Havre. Aber das ist es nicht. Ich brauche senkrecht abfallende Kalkfelsen, wie die Klippen von Fécamp und Ètretat… Sie dürften diese Gegend zur Genüge kennen. Geben Sie mir doch eine Beschreibung der ganzen Küste von Barneval bis Ètretat… (ohne Seitenangabe)

Mit dieser Bitte wendete sich Gustave Flaubert an seinen damaligen Schüler und Freund Guy de Montpassant. Es war das Jahr 1877 als Flaubert an der Arbeit zu seinem gesellschaftskritischen Roman Bouvard und Pécuchet saß, mit dem er ganz nebenbei mit der realistischen Tradition innerhalb der frankophonen Literatur brach. Maupassant antwortete prompt und sendete unverzüglich die ersten Beschreibungen und Skizzen der gewünschten Landschaft. Letztlich verzichtete Flaubert aber auf die Informationen Maupassants: Die Schilderungen der lokalen Gegebenheiten wären zu ausufernd für den geplanten Roman.

Der Düsseldorfer Fotograf Elger Esser nimmt den Briefwechsel der beiden Literaten und die Beschreibungen der geographischen Gegebenheiten zum Anlass, um nicht nur den Spuren Maupassants am Cap d‘ Antifer bis Éntretat zu folgen, sondern um sein Verständnis von Kunst und insbesondere der Fotografie visuell zu verwirklichen: Analog zu Duchamps Kunstkritik und Flauberts Literaturkritik möchte auch Esser die traditionelle Auffassung der Fotografie als Abbildmedium überwinden. Statt in der Fotografie ein alleiniges technisches Kunsttreiben zu sehen, sollte laut Esser Fotografie vielmehr als ein Ausdruckswerkzeug gelten.

Neben Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Flaubert und Maupassant enthält das Buch vordergründig Essers Fotografien der Küstenlandschaft. Essers Bilder orientieren sich dabei an den Skizzen Maupassants, denn der Fotograf belichtet seinen Film zumeist aus der Perspektive des französischen Schriftstellers. Dabei entstehen wunderschöne Motive als technisch moderne Pendants zu Maupassants Zeichnungen.

Durch das Nebeneinander von Skizzen, Fotos und Beschreibungen entsteht eine historische Verbindung, durch die die Ausführungen Maupassants zu einem verspäteten Sinn gelangen. In Essers Fotoband werden sie verwendet und in einen neuen Kontext gestellt.

Essers Cap d‘ Antifer – Èntretat besticht nicht nur durch hohe künstlerische Qualität, sondern auch durch eine herausragende Verarbeitung und Aufmachung. Durch eine japanische Buchbindung, bei denen vier Seiten verbunden eine Schlaufe ergeben, gelingt es eine Schmälerung der Bildoptik zu vermeiden, denn die Fotos dringen so nicht durch die nachfolgenden oder vorherigen Seiten durch.

Zudem wird den Briefauszügen, Fotos und Zeichnung sehr viel Raum auf den Seiten eingeräumt. Jedes Objekt erhält eine volle Buchseite und so wirkt nichts gedrungen. Wunderbar verschwenderisch wird hier mit den Seiten umgegangen, was zu Recht der Qualität der Fotos geschuldet ist.

Den Abschluss von Cap d‘ Antifer – Èntretat bildet ein Essay von Peter Foos in deutscher und englischer Sprache in dem er Elger Esser künstlerisch und kunsttheoretisch einordnet. In diesem Rahmen gelingt es Foos Esser begründet in das illustre antirealistische Kunsttriumvirat bestehend aus Duchamp und Flaubert einzugruppieren.

Der großformatige Band von Esser ist ein fotografisches und literaturhistorisches Kleinod, das in seiner Konzeption seinesgleichen sucht. Es umfasst 48 Seiten mit insgesamt 15 Farbtafeln und 8 Abbildungen. Es erschien 2002 im Schirmer und Mosel Verlag und kostet 39,80 Euro.

Elger Esser: Cap d‘ Antifer – Èntretat. München 2002. (Link führt zu Amazon.de)