Michel de Montaigne – Ein Tierphilosoph

Geschrieben am 29. August 2012

Michel de Montaigne (1533-1592) ist heute insbesondere durch sein mehrteiliges Hauptwerk Essais bekannt. Seine Essais umfassen nicht nur ausführliche Schilderungen von Naturbeobachtungen, sondern auch kurze Abhandlungen und Diskussionen über die unterschiedlichsten Erfahrungen und Überlegungen Montaignes.

Michel de Montaigne ist einer der wichtigsten Vorreiter einer Fragestellung, die seit dem cognitive turn zu neuer Prominenz gelangt ist: Können Tiere denken? Hinsichtlich dieser Frage können grob zwei Lager unterschieden werden: Zum einen gibt es die Differentialisten, die behaupten, Tiere hätten keine mentalen Fähigkeiten, wie der Mensch, da es ihnen u.a. an einer Sprache mangele, die notwendig für das Denken sei. Die Gegenposition umfasst die Assimilationisten zu denen auch Montaigne gehört. Assimilationisten sind der Ansicht, dass Tieren zu recht mentale Zustände und die Fähigkeit zu Denken zugeschrieben werden könne. Beschäftigt sich im angelsächsischen Raum ein Konglomerat von Disziplinen unter dem Namen cognitive ethology mit der Frage nach dem tierlichen Denken, so stellt sich in deutschsprachigen Gefilden die sogenannte Tierphilosophie diesem Problem.

Es lohnt sich einen genaueren Blick auf die Essais von Montaigne zu werfen, denn hier finden sich bereits wichtige Argumente, die auch viele hundert Jahre später noch aktuell sind und diskutiert werden. Wichtigste Quelle der Ausführungen zum obigen Problem, finden sich im zweiten Teil der Essais, in der Apologie Raimond Sebonds:

Montaigne beklagt hier die Eitelkeit des Menschen als ein Geschöpf, das sich selbst weit entfernt von den Tieren, aber nahe der Götter situiert. Montaigne spricht hierbei von einer Überschätzung der eigenen Vernunft, die fälschlicherweise exklusiv nur dem Menschen zugesprochen werde:

Der Hochmuth ist ein uns natürlicher und angebohrner Fehler. Der Mensch ist das elendste und gebrechlichste unter allen Geschöpfen: und dennoch ist er das hoffärtigste. (33)

Die menschlichen Auszeichnungsversuche hinsichtlich der eigenen Spezies sind ganz unterschiedlicher Art und sollen die Sonderstellung des Menschen rechtfertigen: genuin menschlich seien u.a. die Vernunft, die Sprache oder gar nur rein anatomische Eigenschaften, wie der aufrechte Gang:

Durch eben diese eitle Einbildung macht er sich Gott gleich, leget sich göttliche Eigenschaften bey, sondert sich selbst von dem Haufen der andern Geschöpfe ab, schneidet den Thieren, seinen Mitbrüdern und Gesellen ihren Theil zu, und giebt ihnen so viel Vermögen und Kräfte, als ihm gutdünckt. (33)

Die Differenzierung zwischen Mensch und Tier, aufgrund unterschiedlicher Propria ist demnach laut Montaigne willkürlich und unbegründet. Die Zuschreibung bestimmter „höherer“ mentaler Fähigkeiten, wie das Denken, sei im Falle von Tieren zufällig und in den meisten Fällen eher unbefriedigend, da Tiere sehr wohl über kognitive Vermögen verfügen. Es bliebe nur noch die Frage, wie wir das tierliche Können genau bestimmt werden könne. Montaigne trifft hier den Kern des epistemologischen Hauptproblems, das auch in aktuellen Diskussionen zu lösen versucht wird:

Wie, erkennet er denn durch die Stärke seines Verstandes die innerlichen und verborgenen Regungen der Thiere? Aus was für einer Vergleichung zwischen uns und ihnen folgert er dann die Dummheit, die er ihnen beyleget? (33)

Wie, so stellt sich die Frage, können wir auf die mentalen Fähigkeiten von Tieren, also speziesfremden Lebewesen, schließen? Eine Möglichkeit ist ein Analogieschluss von Menschen und dessen Vermögen auf die der Tiere, die in einer ähnlichen oder sogar gleichen Situation eben diese Vermögen realisieren:

Wir wissen indessen, was für Kräfte wir zu unsern plumpern Werken anwenden, und daß sich unsere Seele aller ihrer Stärke dabey bedienet. Warum glauben wir nicht, daß es bey ihnen eben so ist? (39)

Wenn wir durch eigene Beobachtung erkennen, dass wir einen Wunsch X und eine Überzeugung Y haben, wenn wir H tun wollen, so können wir diese Erkenntnis wohl auch auf Tiere anwenden, da einige von ihnen recht nah verwandt mit uns sind. Auf den Punkt gebracht wird es in folgendem funktionalistischen Argument:

Wir müssen aus gleichen Wirkungen auf gleiche Kräfte, und aus vollkommenern Wirkungen auf vollkommnere Kräfte schließen, und folglich bekennen, daß sich eben die Vernunft, und ebn die Art zu verfahren, welche wir beobachten, oder vielleicht eine bessere, auch bey den Thieren findet. (49)

Problematisch bei Analogieschlüssen ist grundsätzlich, dass es eines Analogieprinzips bedarf, das zeigen muss, dass zwei unterschiedliche Dinge in für den Schluss relevanten Eigenschaften übereinstimmen. Montaigne rekurriert hier implizit auf eine Entwicklungskontinuität zwischen Mensch und Tier, nach der Eigenschaften, wie Vernunft und Sprache phylogenetische Vorläufer in der Tierwelt hätten. Das unsere direkten Vorfahren aber schon vor Jahrtausenden ausgestorben sind und dass ein evolutionäres Argument hier eher schwach ist, wusste Montaigne noch nicht.

Mit der Frage, ob Tiere denken können ist zumeist auch die Frage, was sie möglicherweise denken, eng verknüpft. Auch diese Frage stellte sich Montaigne bereits und ist mit seiner Antwort höchst modern. Montaigne vertritt, wenn auch noch wenig elaboriert, einen sogenannten holodoxastischen Ansatz. In seinem skizzierten Szenario, versucht er die Gedankengänge anhand des Verhaltens eines Fuchses zu rekonstruieren:

Wenn wir […]den Fuchs, dessen sich die Einwohner von Thracien bedienen, wenn sie über einen gefrornen Fluß setzen wollen, und welchen sie zu diesem Ende vor sich her laufen lassen, wenn wir, sage ich, sähen, daß dieser Fuchs an dem Ufer des Stromes das Ohr sehr nahe an das Eis hielte, Acht gäbe, ob er das darunter weglaufende Wasser von ferne oder nahe bey ich rauschen hörete, und nachdem er hierdurch das Eis mehr oder weniger dicke fände, fort und zurück liefe: würden wir nicht mit Rechte urtheilen, daß er eben so dächte, wie wir in dergleihen Falle denken würden, und daß er natürlich den Schluß und die Folge machete: Was rauschet, das bewegt sich; was sich beweget, ist nicht gefroren; was nicht gefroren ist, ist flüßig; und was flüßig ist, giebt unter der Last nach. (59)

Demnach ließe sich der Inhalt von Gedanken anhand von Verhaltensweisen und Mimiken bestimmen. Gedankeninhalte sind jedoch nicht identisch mit Verhaltensweisen, letztere seien nur ein Indiz für das Denken und ein Weg zur Inhaltsbestimmung. Es ist somit laut Montaigne möglich, die ontologische Fragen, ob Tiere denken können und die semantische Frage, was sie denken, zu klären und so die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen zu relativieren, ja sogar zu dekonstruieren.

Michel de Montaignes Überlegungen, die immerhin bereits über 400 Jahre alt sind, sind hochaktuell. Er ist damit Ideengeber und Vorreiter der heutigen Tierphilosophie. Man könnte sich jedoch im Anschluss an Montaigne fragen, was es für unser Selbstverständnis hieße; Wenn Geist (Denken) kein anthropologisches Abgrenzungskriterium zwischen Mensch und Tier mehr ist, dann wären wir Tiere, oder wir müssten Tiere als Menschen, genauer als Personen, mit Rechten und Pflichten behandeln. Den noch vor hundert Jahren praktizierten Tierprozessen, wären damit wieder Tür und Tor geöffnet. Und kann man das als Haustierbesitzer wollen?

 

Literatur:

Michel de Montaigne: Essais. Zürich 1992.