Komm, lass uns gemeinsam den Alltag verlernen! – Franz Hessel: Pariser Romanze

Geschrieben am 11. September 2012

Wenn ein Flaneur die Ereignisse und seine Beobachtungen, die er  in einer der schönsten Städte der Welt erlebt bzw. gemacht hat, niederschreibt, kann man dieses Buch getrost als Lektüre empfehlen. Zwar ist der Name Hessel in der Welt der Literatur kein Unbekannter, jedoch denken die Meisten eher an Stéphane Hessel und nicht an dessen Vater Franz. Was umso tragischer ist, als die Romane des scheinbar fast vergessenen Franz Hessels über eine große literarische Qualität verfügen, die nicht als bloße Fußnoten der Literaturgeschichte enden oder gänzlich vergessen werden sollten.

In Franz Hessels Briefroman Pariser Romanze berichtet der Protagonist und auktoriale Erzähler Arnold Wächter seinem weit entfernten Freund Claude über seine letzten Tage in Paris und über die kurze aber intensive Romanze zwischen Arnold und der 19-jährigen Lotte. Assoziationen zu Goethes Die Leiden des jungen Werthers wurde in der literaturwissenschaftlichen Komparatistik vielfach nachgegangen. Zu ähnlich sind sich die Namen “Wächter” und “Werther”, ganz zu schweigen von der identischen Benennung der jeweiligen Herzensdame.

Auch gibt es jeweils eine dominate Szene, die Ursprung für Schwärmerei und darauffolgender höchster Verliebtheit ist: Ist es im Werther die brotschneidende, so ist es in der Pariser Romanze die als Junge (Gaston) verkleidete und mit Kindern tanzende Lotte. Ihr wahres Geschlecht, das erst kurze Zeit später “enthüllt” wird, erscheint angesichts ihres Anblickes belanglos:

Seine Wangen röteten sich, und mit einmal erschien auf seinen Lippen das Lächeln, das wir von einem Mamorkopf aus Chalkis kennen, den uns der Athener Freund geschickt hat, das Lächeln, das die Konvention archaisch nennt […] Es ist kein Frauenlächeln, es ist nicht das der lockenden Verführerin, wofür es viele halten. Engel und Heiden haben es, Selige und Heilige und die frühen Griechengötter. Was bedeutet Mann und Weib, wenn ein Gott lächelt? (46).

Es entwickelt sich eine Romanze, die einer offenbaren Sexualität gänzlich  entbehrt:

Als es dunkelte, saßen wir nahe bei der Bahn in einem Wirtsstübchen, wo nur am Buffet ein Licht brannte. Wir blieben in einem finsteren Winkel schweigend nahe beieinander, aber ohne uns zu berühren. (82)

Für Arnold ist sie eine “Erscheinung” (105), eine unantastbare Galatea. Beide vagieren ausschließlich durch die Strassen von Paris, sitzen in Cafés und treffen kuriose Gestalten in den Künstlervierteln, und dennoch ist ihr Zusammensein vertraut und intim. Man wähnt sich fast, ein nur im Flüsterton redendes Paar zu beobachten.

Arnold Wächter ist Deutscher, der Adressat seiner Briefe, Claude, ist Franzose. Es ist das Jahr 1915 und beide befinden sich an unterschiedlichen Kriegsfronten. Das triste Lagerleben in dem sich Arnold befindet steht im direkten Gegensatz zu den rauschhaften und sorglosen Jahren zwischen Künstlern, Schauspielern und Musikern im bohemen Paris. Offensichtlich wird dies, wenn Arnold, zurückgezogen in die Kaserne, die wunderbaren Pariser Jahre herausbeschwört:

Was ist aus unserer Welt geworden, Claude? Denkst Du manchmal an die schöne Zeit, als alle Nationen von Montparnasse sich in der Closerie des Lila versammelten? Da war der mächtige Norweger Lynge; der mit seinem grauen Knebelbart mehr einem Kapitän als einem Maler glich, und erzählte uns in sanfter französischer Frühlingsnacht Wintermärchen von rotnasigen feueräugigen Trollen. Da saß der kleine Moskauer Dmirty mit dem Tatarenkopf, und seine schöne florentinische Dame streichelte zärtlichdas helle Haar Deiner wundervollen frechen Pamela aus Chelsea. (19f.)

Hingegen die Trost- und Sinnlosigkeit des Lagerlebens bzw. des Krieges zeigt sich in schwermütigen Grübeleien; hier über einige Gefangene:

Es sind gutmütige Gesellen. Für ein bißchen Brot und Tabak helfen sie uns, unsere Wachtstube säubern, holen uns Kohlen und Wasser. – Und diese Menschen haben vor ein paar Monaten auf unsere Kameraden geschossen, Und ich werde vielleicht bald auch auf die ihren schießen. (38)

Hessels Pariser Romanze erzählt aber nicht nur die Liebesgeschichte von Arnold und Lotte, sondern auch von Arnold und der Stadt Paris. In unnachahmlicher Manier beschreibt er die unterschiedlichsten Orte und Gebäude, Fassaden, Innenräume, Gassen und den von Arnold und Lotte oft besuchten Jardin du Luxembourg. Die Stadt wird so nicht nur zum Schauplätz der Romanze, sondern sie selbst rückt immer wieder in den Vordergrund der Geschichte. Sie wird zum heiß ersehnten Idealbild, das dem einsamen Soldaten nur als Traumbild, zusammengesponnen aus seinen Erinnerungen, erscheint.

Pariser Romanze ist ohne Frage autobiographisch angehaucht. So ist das Buch weitestgehend eine romanhafte Adaption der Geschichte von Franz Hessel, Henri-Pierre Roché und Helen Grund, der späteren Frau Hessels. Roché benutze diesen Stoff ebenfalls als Ideenquelle, um einen seiner berühmtesten Romane zu schreiben: Jules et Jim, der später von Rochés Freund Francois Truffaut verfilmt wurde.

 

Franz Hessel: Pariser Romanze. Frankfurt 1985. (Link führt zu amazon.de)