Henry Miller: Stille Tage in Clichy. Eine leidige Frage.

Geschrieben am 3. November 2011

Henry Millers Roman Stille Tage in Clichy erschien erstmalig 1956 und liegt seit 1968 in deutscher Übersetzung vor. Bei der Sichtung von Buchkritiken fällt auf, dass sich seit Erscheinen zwei interpretatorische Tendenzen herauskristallisiert haben. Auf der einen Seite wird Stille Tage in Clichy als pornographischer Roman ohne literarischen Anspruch verteufelt, auf der anderen als poetisches Meisterwerk gefeiert. Erstere Lesart unterliegt dem Fehler, dass alleinige Augenmerk bei der Lektüre auf die Darstellung der “anstößigen” Inhalte zu legen, wohingegen zweitere, die teilweise mindere schriftstellerische Qualität eben jener Darbietungen übersieht.

Das Buch Stille Tage in Clichy handelt von den Ausschweifungen und alltäglichen Sorgen der Protagonisten Joey und Carl, zweier mehr oder minder erfolgreicher Schriftsteller im Pariser Vorort Clichy in den 30er Jahren. Beide Akteure sind unablässlich damit beschäftigt Geld aufzutreiben oder amouröse Abenteuer zu suchen. Miller beschreibt insbesondere letzteres, wie man es aus seinen prominenten Romanen Sexus, Wendekreis des Krebses und Wendekreis des Steinbocks kennt in einer teilweise ordinären Manier und schreckt vor keinen moralischen Grenzen zurück: So entwickelt sich die minderjährige Collette von einer ahnungslosen Lolita zu einer sexsüchtigen Nymphomanin, die zuletzt total psychotisch von ihren Eltern abgeholt wird. Die Darstellungen von Joeys und Carls sexuellen Exzessen erinnern an pubertäre Liebhaberphantasien und schmälern in meinen Augen die literarische Qualität dieses Buches.

Stille Tage in Clichy ist aber auch ein empfindsam geschriebenes Werk. Miller erreicht seinen poetischen Zenit mit der Beschreibung der Begegnung zwischen Joey und Mara. Hier rückt die sexuelle Gier geradezu in den Hintergrund und nur die feinsinnige Darstellung ihres Zusammentreffens tritt in den Fokus des besonnenen Lesers. Insbesondere die Abschiedsszene zeugt von großem literarischem Können und straft Vorwürfen wie, Miller stelle Frauen immer (!) nur als Sexobjekte dar, Lügen.

Stille Tage in Clichy ist keine alleinige Chronik der sexuellen Zügellosigkeiten Joeys und Carls, weshalb er nicht als ein rein pornographischer Roman verstanden werden sollte. Er weist einige wenige literarische Mängel auf. Dennoch ist Stille Tage in Clichy ein sehr lesenswerter Roman, der insbesondere dadurch aus der Reihe der oben genannten Romane heraussticht, als es sich Miller hier verkneift pseudo-philosophisch herumzuschwadronieren und somit unerträgliche Längen zu fabrizieren. T.W.